Spaghettiwestern
Wir schreiben das Jahr 1911: Die Ära des Wilden Westens geht langsam zu Ende. John Marston, dem du fortan über die Schulter schaust, erhält den Auftrag, seine ehemaligen Bandenmitglieder dingfest zu machen, die über das ganze Land verstreut sind — oder seine Familie muss dafür bezahlen. Wird er einen Weg finden? Begleitet von zwei Staatsbeamten wird er zum Bahnhof geführt, wo eine lange Zugreise auf ihn wartet. Kaum angekommen, wird er angeschossen und von einer gütigen Miss gerettet.

John Marston ist ein Typ wie aus dem Bilderbuch — eine kantige Mischung aus Charles Bronson und Clint Eastwood, mit einer Prise John Wayne-Walk. Die Animation deines Alter Egos ist genial gelungen: Egal ob zu Pferd, zu Fuss, während einer Schiesserei, am Pokertisch oder bei der Jagd, Johnny-Boy vermag eine unglaubliche Authentizität rüberzubringen. Auch seine Stimme passt perfekt, und wie es sich für Rockstar Games gehört, wurde auf eine deutsche Synchronisation verzichtet, Untertitel müssen genügen. Diese Lösung überzeugt nach wie vor, die Qualität der Stimmen und Charakteren ist Top, die Dialoge grösstenteil witzig und gehaltvoll.
Unendliche Prärie
Ganz so grenzenlos ist die Spielwelt von New Austin und dem angrenzenden Teil in Mexiko natürlich nicht. Aber sie ist riesig, und zwar ist damit gemeint: RIESIG. Nicht vergebens hat Rockstar verlauten lassen, dass dies die grösste Spielwelt ist, die sie je geschaffen haben. Und leer ist diese auch nicht, ganz im Gegenteil: Ständig kommt einem etwas Interessantes über den Weg gelaufen oder passiert etwas Merkwürdiges.

So kann man überfallenen Schatzsuchern dabei helfen, sich gegen Banditen zu verteidigen, alle möglichen Tiere jagen und die Felle samt Fleisch später einem Händler verkaufen und vieles mehr. Auch kann man anderen bei der Jagd zuschauen, ständig passiert irgendwas. Ab und zu hält ein fremder Reiter an und geht mal kurz pinkeln hinter einem Kaktus, Adler, Falken, Krähen und Geier kreisen über der Landschaft, und man selbst darf auch gleich das eigene Pferd einfangen und zureiten. Dies braucht etwas Geschick und Geduld, die Erfüllung ist bei gelungenem Stunt umso grösser.

Die Sichtweite hat sich im Vergleich zu GTA 4 merklich vergrössert, und die Bergwälder, Steppen, Wüsten und Städte von RDR sind vollgepflastert mit Zäunen, alten Masten, Kakteen, halbverrotteten Brettern, Bahnlinien, Felsen und vielen weiteren Dingen. Die Welt wirkt sehr glaubwürdig und vielfältig. Dazu kommen sehr schön umgesetzte Wettereffekte, Tag-Nacht-Rythmus, und hübsch animierte Gewässer.
Entsprechend der Vielfalt der Gegenden gibt es auch viel zu tun. Man darf Banditen jagen, Kühe treiben, Texas Hold'em Poker spielen, auf die Jagd gehen, banditenverseuchte Dörfer säubern, diverse Gebäude betreten, Filme im Kino anschauen und einige Dutzend weitere Dinge mehr.
Geld oder Leben

Im Verlauf des Spiels gewinnt man automatisch an Ruhm. Durch die eigenen Taten wird man berühmt, so einfach ist das. Ob einem die Heldentaten oder das Schurkendasein besser gefällt, ist jedem allein überlassen. Dies bestimmt die zweite Ebene des eigenen Rufes, nämlich die Ehre.

Macht man sich einen Namen mit Postkutschenüberfällen, Mord, Terror und Pferdediebstahl, sind einem die Leute im Land bald mal nicht mehr so gut gesinnt, und so mancher Möchtegern-Sheriff möchte das Kopfgeld einkassieren. Reinwaschen kann man die angehäufte Schande per Begnadigungsschreiben, die man ab und zu findet, oder per Bezahlung des eigenen Kopfgeldes. Manche Sidequests eröffnen sich aber erst mit einem bestimmten Ruf, und so lohnt es sich mit beiden Gesinnungen etwas zu experimentieren.

Spezielle Missionen bekommt man auch zur Absolvierung freigeschaltet, wenn man bestimmte Kleidungssets «entdeckt». Meist müssen für die einzelnen Teile bestimmte Mini-Aufgaben erfüllt werden, und sind die Sets einmal komplett gelöst, darf man sich entsprechend einkleiden. Dies wiederum kann einem neue Bekanntschaften eröffnen und so frische Aufgaben anschwemmen.
Convenience is King
Ist man irgendwo in der Pampa unterwegs, darf man ein kleines Camp aufschlagen (später auch grössere), und jederzeit speichern. Gleichzeitig bekommt man die Munition für die mitgebrachten Waffen aufgefüllt und man darf an alle bereits entdeckten Orte auf der Karte reisen. Eine tolle Idee, gerade wenn man bedenkt, dass in GTA die Reiserei im späteren Verlauf des Spiels einige Kopfschmerzen hervorrufen konnte. Taxis wurden je länger je mehr zur Pflicht.

In jedem grösseren Ort kann man sich auch ein eigenes Zimmer kaufen, wo man ebenfalls speichern und die Ausrüstung auffüllen darf. Legt man sich zum Schlafen = Speichern hin, vergehen nach GTA-Tradition sechs Stunden Ingame-Zeit.
Das eigentlich Reisen durch die Landschaft per Pferd ist ein wenig umständlicher, als in GTA per Auto rumzutuckern. Andererseits eröffnet das Herumkommen per Pferd die Möglichkeit, quasi immer und überall querfeldein zu gehen. Da ist man in GTA in der Stadt per Fahrzeug natürlich stärker auf bestimmte Routen beschränkt.

Angenehm ist wiederum die Funktion, mit der man sich per Pferd einem Begleiter und dessen Richtung und Geschwindigkeit automatisch anpassen kann. Andernfalls wäre das Erreichen eines bestimmten Ortes mit einem oder mehreren Begleitern eher ein mühseliges Unterfangen.
High Noon
Neben der im Vergleich zu GTA4 gesteigerten Framerate ist auch John Marston ein wesentlich wendigerer Bursche als Niko Bellic. Leider kann auch der neue Revolverheld nicht mit der Agilität eines Nathan Drake oder der Leichtigkeit eines Strom-Athleten aus inFamous mithalten. Auch die Killer in Assassin's Creed sind flinke Hasen im Vergleich, aber Rockstar hat zumindest mal links und rechts geschaut, und sich etwas beeinflussen lassen. Gerade der Umgang mit Deckungen hat sich doch etwas gebessert und die Bullet-Time, bekannt aus Max Payne und seither vielerorts eingesetzt, bringt ein bisschen mehr Mucke in die Schiessbude.

Nichts desto trotz fühlt es sich saugut an, in ein besetztes, heruntergekommenes Kaff einzureiten, und die bösen Jungs dem Sheriff zuliebe auszuräuchern. Solche Szenen könnten direkt aus «Spiel mir das Lied vom Tod» oder «Für eine Handvoll Dollar mehr» entstammen. Und wer hat als kleiner Junge nicht davon geträumt, solches gleich selber quasi live zu erleben? Per Online-Kooperativ-Mulitplayer darf man im vorliegenden Spiel sogar mit seinen Freunden einen auf Bandit machen.
Man kann Rockstar einen gewisse Machart «vorwerfen», von dem auch in RDR nicht grandios abgerückt wird. Aber das Ganze hat halt einfach Stil, und eine solch grosse Dichte und Liebe zum Detail bei den Spielcharakteren und Bösewichten hat bisher aus meiner Sicht noch kaum ein anderes Entwicklerteam hingekriegt.
Fazit

Ein eigenes Pferd einfangen und dieses zum treuen Begleit(ti)er machen ist irgendwie cool — sogar cooler, als in GTA endlich den fettesten Sportwagen zu ergattern. Das Schlussstatement sei für dieses Mal kurz gehalten: Kaufen, zocken, Freude.