BEYOND: TWO SOULS
Testbericht | PS3

BEYOND: Two Souls gold_medium

vor 11 Jahren von DN, Aktualisiert: vor 11 Jahren

Es gibt Shooter, Renngames, Jump'n'Runs, Sportspiele, RPGs ... — und dann existieren da noch Spiele von Quantic Dream. Spätestens seit Indigo Prophecy (Fahrenheit) weiss jeder Kenner der hohen Videogamekunst, wer hinter den aussergewöhnlichen und emotionsgeladenen Abenteuern aus Frankreich steckt. Das Team um David Cage hat auch im neusten Wurf wieder Aussergewöhnliches geleistet und in mancherlei Hinsicht Neuland betreten. Wer dieses Spiel verpasst, ist schlichtweg selber schuld.


«Remember who I am»

«Erinnere dich, wer ich bin»

Wir lernen Jodie Holmes als kleines Mädchen kennen, welche als Adoptivkind bei übeforderten Eltern aufwächst. Die Handlung des Spiels dreht sich um verschiedene Stadien von Jodies Leben zwischen 8 und 23 Jahren, umfasst also eineinhalb Jahrzehnte ihres Werdegangs.

Nachdem Jodie ihr Zuhause verliert, wird ihr «Ziehvater» Nathan Dawkins, ein Professor an einem staatlichen Institut für paranormale Phänomene und hochbegabte Kinder, zur zentralen Bezugsperson. Aber auch die Forschungslabore und die zahllosen Experimente, welche sie wie ein Schimpanse in einem goldenen Käfig über sich ergehen lassen muss, stellen nur eine temporäre Station in Jodies Leben dar.

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Der Grund für Jodies «Misshandlung» und Leidensweg ist Aiden, ihr unsichtbarer Begleiter seit Geburt. Ein Wesen mit eigenem Willen und grosser Macht, welcher sich öfters selbstständig macht (im Spiel kontrolliert man abwechslungsweise Jodie oder Aiden, meist darf man frei hin und her wechseln). Das Wesen verfügt über eine gewaltige Zerstörungsgewalt, genauso wie über telepathische und heilende Kräfte. Es stammt aus der Parallelwelt «Infraworld» und kann auch als starke Emotion gelesen werden wie Angst oder Panik, Wut und Jähzorn, Habgier und Wollust, oder übersteigerte Eifersucht. Fast schon wähnt man sich im Thema der sieben Todsünden aus Seven angesichts der dargestellten Situationen, zumindest was die Interaktionsmöglichkeiten für den Spieler angeht.

Die Geschichte von Jodie und Aiden wird asynchron erzählt, springt in Sequenzen unterteilt vor und zurück. Die Erzählweise ist demnach nicht chronologisch, ein Faktum greift ins andere, wie ein Puzzle entsteht nach und nach ein Gesamtbild, episodenhaft und non-linear. Die Machart erinnert an Filme wie 21 Gram oder Memento.

Absolut fantastisch ist insbesondere die Umsetzung von Jodie als Kind. Dies gilt nicht nur für die rein grafische und akustische Darstellung der Ellen Page im Kindesalter (welche ja faktisch künstlich erstellt werden musste). Die panikartigen Angstzustände des kleinen Mädchens werden in Animationen, Tätigkeiten und Aufgaben konsequent aufgegriffen und unterstützt. Die Spielsachen passen, klassische Kinder-Horror-Situationen (wie z.B. etwas aus dem Keller zu holen) erinnern an die eigene Kindheit, die Ängste und Emotionen sind nachvollziehbar, erlebbar. Der erdige Horror wird schon fast greifbar.

Aber: BEYOND ist kein Horror-Titel. Schwer einzuordnen, aber immer interessant. Der Mix aus Adventure und Action-Thriller mit Schockelementen vermag zu gefallen.

«Forever yours»

«Für immer dein»

Tod und Jenseits, Spiritualität und neues Leben stellen ein durchgängiges Thema dar in BEYOND. Wie genau sich die Geschehnisse und Charakteren deuten lassen, habe ich etwas weiter unten aufgegriffen.

Bestechend an der Art und Weise, wie Quantic Dream das Medium der Videogames — genauer gesagt: des interaktiven Geschichtenerzählens — interpretiert, sind insbesondere die scheinbar banalen und alltäglichen Szenen, welche zu spannenden Handlungsteilen mutieren. Klar gibt es in BEYOND auch absolut spektakuläre Actionsequenzen und hochemotionale Abschnitte. Aber gerade in den stillen Kapiteln vermag der Titel zu überzeugen.

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Brillant zum Beispiel sind Szenen wie das Dinner, wo man wie im echten Leben plötzlich unter Zeitdruck steht. Eine Stunde bleibt, bis der Gast erscheint. Aufräumen, kochen und sich zurechtmachen steht auf der To Do-Liste, und die Minuten verrinnen wie im Flug. In der Kunst, wie Cage und Quantic Dream solche Szenen in ihre Spiele einbauen, liegt etwas Einzigartiges, denn langweilig sind solche von Weitem betrachtet banale Sequenzen ganz und gar nicht.

Ein paar eher mittelmässig spannende Sequenzen gibt es wie in jedem Game, der Grossteil der Kapitel bietet hingegen entweder emotional oder von der Action her grosses Kino, und man kann nicht aufhören zu bangen und zu hoffen, dass sich für Jodie doch noch alles zum Guten wenden möge. Ob das am Ende der Fall ist, darf jeder und jede von euch selbst rausfinden.

Entscheidend für die Nahbarkeit der Figuren sind sicherlich die hervorragenden Performances der Hauptdarsteller Ellen Page und Willem Dafoe (Nathan Dawkins). Aber auch die weiteren Rollen wurden stimmig besetzt und tragen zum gelungenen Gesamteindruck bei.

«You are a monster!»

«Du bist ein Monster!»

Eine zentrale Frage, mit welcher die spielende Person vor dem Screen immer wieder konfrontiert wird, ist jene danach, ob es sich bei Jodie Holmes um ein Opfer oder um ein Monster, eine Besessene handelt. Oder gar beides? Aiden sorgt immer wieder für Tod und Zerstörung, und es wird konsequent Entscheidung des Spielenden vor dem Screen überlassen, wie heftig Aiden wüten soll. BEYOND spielt gekonnt mit den Emotionen des Betrachters, manche Szene macht jeden Gamer mit minimal ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn zum Racheengel, welcher ungeniert Dutzende von Menschenleben und Gegnerhorden vernichtet — in der Gestalt von Aiden.

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Die Geschichte der jungen Frau mit dem unfreiwilligen Gefährten ist die eines Menschen mit dem Schicksal, etwas Besonderes zu sein. Verbunden mit allen Sonnen- und Schattenseiten eines solchen Pfades. Jodie ist — einmal von ihrer Begabung abgesehen — hochintelligent, charmant, hochgradig selbstbewusst im Sinne sich ihrer selbst bewusst und praktisch zu jeder Zeit schon fast demütig in der Akzeptanz ihres leidenvollen Lebens mit wenigen Lichtblicken.

Metaphorisch gelesen könnte man Jodie als ein Beispiel für hochbegabte Kinder sehen, vielleicht auch als musisch begabte Personen oder auch ganz einfach hochkreativ geprägte Menschen, welche sich im Verlauf ihres Lebens mit ähnlichen Situationen konfrontiert sehen. Und zwar immer und immer wieder. Die Fähigkeit, vernetzt zu denken, und vielseitig interessiert zu sein, entpuppt sich in der Gesamtheit der «normalen» Gesellschaft gesehen öfter als Fluch denn als Segen.

«I am so tired»

«Ich bin so müde»

David Cage wagt sich mit BEYOND an grosse Themen: Isolation, Spiritualität, Schamanismus, Verzweiflung, soziales Elend, Mystizismus, Erlösung und Katharsis, Geburt und Tod, Folter, psychische Unterdrückung und Vergeltung. Bemerkenswert daran ist die Tatsache, dass die Gesamtheit des Spiels kaum darunter leidet, eine Episode fügt sich in die andere, formt ein Ganzes.

Die Handlung und den Hintergrund des Spiels lassen sich — wie oben angedeutet — auf mehrere Arten lesen:

Soziologisch: Die angesprochene Deutung mit der Superbegabung, Aiden als manifestierter Geist des Genies, drängt sich natürlich auf. Dazu gehört die Idee des Einzelgängertums, der Isolation, des Nicht Verstandenwerdens. Auch interessant ist die Tatsache, dass Jodie ein Adoptivkind ist. Ihre Existenz am Rande des Wahnsinns kann auch als Schicksal eines Kindes aus schwierigen Verhältnissen gedeutet werden, wie z.B. dem eines Scheidungskindes oder sonstigen schwierigen sozialen Umständen wie Drogen oder Kriminalität. Aiden kann auch als Flucht in eine eigene Realität gedeutet werden.

Religiös: Die Geschichte und die Art wie sie erzählt wird, stellt Jodie stellenweise als weiblicher Messias und Heilsbringerin dar. Ohne allzu explizit zu werden, lässt Cage auch klassische christliche Topi anklingen. Dazu gehören Heilung, Trost und die gleichzeitig Unfähigkeit der Prophetin, sich selbst zu helfen.

Historisch kulturell: BEYOND kann auch als eine moderne Hexenjagd und eine Parabel auf die Inquisition gedeutet werden, welche natürlich nie wirklich aufgehört hat. Minderheiten und insbesondere Frauen werden auf der ganzen Welt weiterhin schikaniert, verfolgt und manchenorts sogar gesteinigt oder verbrannt.

Psychologisch: Jodie's Besessenheit mit Aiden kann als Fluch, als Last gesehen werden, welche durch äussere Einflüsse auferlegt wurde, und mit der sich Jodie arrangieren muss. Aiden wird so zu einer Art psychischen Qual. Die Deutung von Aiden als Symptom einer gespaltenen Persönlichkeit Jodies, verzerrt von Wahnvorstellungen und paranoiden Anfällen, ist sicherlich die naheliegendste, wenn auch nicht unbedingt die bequemste Art der Interpretation.

Im Grunde genommen ist es auch nicht unbedingt nötig, die Handlung und die Personen in der einen oder anderen Form lesen zu wollen. Die Dramaturgie und die Wendungen sind spannend genug, als dass man weit vom Erlebnis abdriften möchte während den Gamesessions. Mit einer wuchtigen Gesamtdauer vermag BEYOND zudem für mehrere Abende beste Unterhaltung zu bieten. Es spricht in meinen Augen für den Titel, dass eine Vielfalt von Deutungen möglich sind, einmal abgesehen von der reinen Sci-Fi-Fantasy-Story, welche an der Oberfläche präsentiert wird.

«It will never be over»

«Es wird nie enden»

Leider gilt dies nicht für das Spiel, welches mit einer gut ausgelegten Dauer aufwarten kann, aber selbstverständlich nicht unendlich währt. Dies liegt in der Natur der Sache, aber es schmerzt ein wenig, denn man kann fast nicht genug kriegen von den Geschehnissen, welche sich auf dem Screen abspielen.

Ellen Page aka. Jodie ist stellenweise dermassen schön, dass es fast schmerzt. Wobei «schön» einen halben Missgriff darstellt in der Wortwahl. «Grazil» ist präziser, oder vielleicht wäre «anmutig» eine Option. Diese Anmut kommt aber nicht etwa von dramatischem Narzissmus, sondern von der schon fast durch den Controller hindurch spürbaren Charme und vor allen Dingen von der Sanftheit, welche von der weiblichen Hauptfigur ausgeht.

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Jodie ist spektakulär in ihrer Zerbrechlichkeit, in ihrer ganzen fragilen Zierlichkeit. Sie erinnert ein wenig an eine Ballerina, wie sie in ihrer Leichtigkeit durch die Szenen zu schweben scheint, völlig schwerelos, aber in einer guten Art. Es ist nicht so, als dass man den Eindruck hätte, die Entwickler hätten etwas falsch gemacht. Nein. Die Figur der Jodie ist schlichtweg perfekt gezeichnet und mit Ellen Page passgenau besetzt.

Die Präsentation ist für diese Konsolengeneration absolut einzigartig. Stellenweise glaubt man den Augen kaum, dermassen detailiert zeigen sich Animationen und Ausdruck der Figuren. Klar kann die Umgebung nicht immer mithalten, aber diese dient in Form von Kulissen einem untergeordneten Zweck. Die eine oder andere Actionsequenz wartet mit fantastischen Umwelten auf, wie z.B. Wälder bei Nacht, verregnete Strassen oder zerbombte afrikanische Städte.

Was das Gameplay angeht, so hat Quantic Dream die Vielfalt seit dem brillanten Heavy Rain ein wenig zurückgefahren. Der Einfluss der eigenen Entscheidungen des Spielenden in BEYOND ist weniger gross auf den Gesamtverlauf der Story als in Heavy Rain. Die Konsequenzen entfalten sich unmittelbarer und beziehen sich stärker auf die Art, wie Jodie und Aiden mit gewissen Situationen umgehen. Spannend daran ist insbesondere, dass sich Jodie und Aiden (und mittendrin der Spielende sozusagen als Gewissen) noch lange nicht immer einig sind. Auch hier bietet BEYOND eine bisher nicht gesehene emotionale Tiefe in Form eines Videospiels, welches in der Branche seinesgleichen sucht.

Fazit

BEYOND ist weit weg von perfekt, was auch immer das heissen soll. Was zählt ist: Jodies (Leidens-)Weg ist überaus packend und erlebnisreich. Die Reise ist traurig, euphorisch, brutal — streckenweise trostlos und banal, aber immer ergreifend. Ein Verschmähen dieses Titels möge Leuten vorbehalten bleiben, welche jede Innovation im weitreichenden Einheitsbrei der digitalen Unterhaltung gekonnt ignorieren.

Wer auf hochwertigste Videospielkost steht, und eine Art von Inszenierung erleben möchte, die es in dieser Qualität in Form eines Videospiels noch nie gegeben hat, muss hier diskussionslos zugreifen. Wer traditionelle Videogamekost mit Shoot Outs und Exploring sucht, der wird hier nicht fündig. BEYOND fordert den Kopf und das Herz, nicht die Hand.

Zu hoffen bleibt, dass Quantic Dream den eingeschlagenen Pfad nicht verlässt und auch in Sachen Schlüssigkeit und Handlung noch die eine oder andere Weiterentwicklung zu realisieren vermag.

Wir bedanken uns bei PlayStation Schweiz für die freundliche Bereitstellung einer Vollversion zu Testzwecken.


judgementbox
BEYOND: Two Souls
gold_medium
Positiv

Fantastische Präsentation in Bild und Ton, exzellente Performance der beiden Hauptdarsteller sowie der Nebenfiguren, bewährtes Spielprinzip à la quantic dream, bahnbrechende Gesichtsanimation, lebendige Charakteren, spannende Story, magische Momente verstreut von Anfang bis Schluss, hohes Replay-Value

Negativ

Controls stellenweise etwas umständlich, Handlung hie und da etwas banal, seltene Abschnitte mit Glitches,

Alleine spielen: Sehr gut!
Mit Freunden auf dem Sofa spielen: Sehr gut!
Mit Freunden im Internet spielen: Gibt's nicht.
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BEYOND: Two Souls
Erhältlich für PlayStation 3, PlayStation 4
Von Quantic Dream (Developer), Sony (Publisher)